Artikel und Text auf Plakaten von Annegret Wenz-Haubfleisch
Herkunft der jüdischen Familien von Roth
Jüdische Bewohner im Schenkisch Eigen (Roth, Wenkbach, Argenstein) werden bereits 1594/95 erstmals erwähnt, allerdings nicht namentlich. Im 17. Jh. erfahren wir auch Namen einzelner Familienvorstände in Roth, dennoch war deren Ansiedlung offenbar nicht kontinuierlich, so dass man die Vorfahren der Juden, die im 20. Jh. in Roth lebten, erst im 18. Jh. greifen kann.
Aus neun jüdischen Familien, die 1744 in Roth lebten, erhielten nur die von Salomon Susmann und Loeb Juda (auch Loeb Salomon gen.) weiteres Bleiberecht im Dorf. Salomon Susmanns Familie tritt nicht weiter in Erscheinung, Loeb Judas Familie starb Ende des 18. Jhs. in männlicher Linie aus. Dagegen verblieb offenbar ein Sohn der ausgewiesenen Familie des Seligmann, Aron Seligmann, in Roth oder kehrte dorthin zurück. Er und seine Frau Scheile hatten jedoch keine Kinder. Sie adoptierten daher um 1795 einen Schwestersohn von Scheile aus Breidenbach im Großherzogtum Darmstadt. Dieser nahm in der Westphälischen Zeit (1806-1813) den Namen Stern an und wurde Ahnherr der Familien Stern, die noch im 20. Jh. in Roth lebten.
Begründer der ebenfalls bis ins 20. Jh. in Roth existierenden Familie Höchster war Meyer Isaac, gebürtiger Schwabe, der um 1775 mit seiner nicht namentlich bekannten Frau, aus dem Wittgenstein‘schen kommend, nach Roth einwanderte. Seine Frau war eine Schwester Aron Seligmanns, die dort als Magd gedient hatte. Meyer Isaac bekam eine Aufenthaltsgenehmigung (sog. Toleranzschein) und zeugte mit seiner Frau die Kinder Sara, Reitz und Isaac. Isaac nahm den Namen Höchster an.
Isaacs Schwestern ehelichten zugewanderte Männer, die sich in Roth dauerhaft niederließen. Reitz heiratete Seligmann Bergenstein aus Leihgestern, der in Roth als Knecht gedient hatte. Sara vermählte sich mit Marcus Wäscher aus Ziegenhain, welcher 1815 zuwanderte. Die Familie Wäscher starb Ende des 19. Jhs. aus.
In der ersten Hälfte des 19. Jhs. heirateten zwei Töchter aus der Stern-Familie zwei Söhne aus der Höchster-Familie, wodurch faktisch alle jüdischen Familien in Roth, zumindest über die weiblichen Linien, miteinander verwandt waren.
Die verwitwete Giedel Höchster geb. Stern heiratete 1855 Baruch Nathan aus Lohra. Hierdurch etablierte sich auch eine Familie Nathan in Roth.
Die Familienzweige von Stern, Höchster, Bergenstein und Nathan bestimmten seit dem 19. Jh. das jüdische Leben in Roth. 1922 kam Markus Roth aus Nieder-Ohmen hinzu, der in die Familie von Herz Stern II einheiratete, da deren einziger Sohn Hermann im Ersten Weltkrieg gefallen war. Er gründete mit der Tochter Selma eine Familie.
Die jüdischen Familien im 20. Jahrhundert
Im 20. Jh. lebten zunächst noch neun jüdische Familien und eine einzelne Person aus der Familie Bergenstein in Roth.
Die Entwicklung, die sich im 20 Jahrhundert vollzog, ist trotz aller wissenschaftlichen Forschung zum Nationalsozialismus kaum begreifbar. Roth gehörte vor 1933 nicht zu den besonders „braunen“ Orten. Eine Auswertung der Reichstagswahlergebnisse der Weimarer Republik zeigt, dass die Rother zwar stark deutschnational eingestellt waren, andererseits auch viele der SPD und der KPD zuneigten. Die wenigen übrigen verteilten sich auf die liberalen Parteien. Bei den Reichstagswahlen von 1928 bis 1932 lag die NSDAP in Roth deutlich unter dem Kreisdurchschnitt. Hierzu passt, dass noch 1934 viele Einwohner an dem plötzlichen Tod der jungen Mutter Selma Roth Anteil nahmen und ihr das letzte Geleit gaben.
1935 hatte sich die Situation bereits deutlich gewandelt. Es ist aktenkundig, dass auf dem Gelände eines Geschäftsmanns und auf einem Bauernhof Schilder mit der Aufschrift „Juden sind hier unerwünscht“ standen. Markus Roth, der Düngemittelhändler, wurde vor Gericht der Gesetzesübertretung beschuldigt und in der Presse denunziert, worauf sein Geschäft praktisch zum Erliegen kam. Als 1937 Emma Stern, Roths Schwiegermutter, starb, begleitete sie kein christlicher Einwohner mehr auf den Friedhof, die im Handwerk ungeübten Juden mussten gar den Sarg selbst herstellen.
Die früheren Spielkameraden der jüdischen Kinder traten in die Hitlerjugend ein, wurden mit der nationalsozialistischen Propaganda indoktriniert und wandten sich von ihnen ab. Sie waren dadurch isoliert, ihr Alltag wurde öde und trist. An der Rother Volksschule war einer der beiden Lehrer, Knott, ein überzeugter Nationalsozialist, der die Kinder mit Hetzreden gegen Juden überzog und die jüdischen Schülerinnen und Schüler umso mehr demütigte. Sie konnten jedoch ohnehin die Schule nur noch bis etwa 1937 besuchen.
Vielleicht erkannten die jüdischen Familien nicht sogleich, dass ihr Leben bedroht war. Auf jeden Fall wurde ihnen ab Mitte der 30er Jahre bewusst, dass sie ihre wirtschaftliche Existenz nicht mehr aufrecht erhalten konnten und sie und ihre Kinder damit keine Zukunft in Deutschland mehr hatten. So versuchten sie, das Land zu verlassen. Nicht alle besaßen die finanziellen Mittel und die nötigen Beziehungen. Für die Familien Bergenstein und Nathan war es wohl von vornherein aussichtslos. Die Familien Höchster, Roth und Stern schafften es zum Teil, nur eine der Stern-Familien konnte sich geschlossen in Sicherheit bringen. Elf jüdische Bewohner Roths überlebten so in Südafrika, den USA und England.
Für die Zurückgebliebenen wurde das Leben zunehmend schwierig, weil die Gesetze und Verordnungen immer rigider und die wirtschaftliche Not immer drängender wurden Zum Lebensunterhalt mussten Wertgegenstände aus den Händen gegeben, auch Immobilien verkauft werden. Wenige mutige Dorfbewohner ließen ihnen heimlich Lebensmittel zukommen.
Im Sommer 1941 wurde Roth Ghetto-Dorf. 20 Personen aus Neustadt wurden in den jüdischen Familien zwangseinquartiert, davon alleine zehn bei der Familie Höchster, sechs bei Sterns und je zwei bei Nathans und Bergensteins. Nach der ersten Deportation nach Riga im Dezember 1941, der die meisten Menschen zum Opfer fielen, blieben einige von ihnen in den Häusern von Rother Familien zurück. Sie wurden zusammen mit der letzten Familie Stern 1942 nach Theresienstadt deportiert. Im Regierungsbezirk Kassel gab es insgesamt drei Deportationen, allerdings waren in dem mittleren Transport Ende Mai 1942 in den Bezirk Lublin (Izbica/Sobibor) keine Rother Juden.
15 Rother Juden und Jüdinnen wurden in Konzentrationslagern umgebracht. In wenigen Jahren hatte sich Roth durch das Agieren überzeugter Nationalsozialisten vom „freundlichen stillen“ Dorf zu einem garstigen, menschenverachten den und menschenfeindlichen Ort für die in enger Nachbarschaft wohnenden Juden entwickelt.
Der Abschnitt "Die jüd. Familien im 20. Jahrh." entnommen aus der Broschüre über die Stolpersteine.